"Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang ich diesen Satz des dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard seinerzeit gelesen habe, oder wann genau, es ist gewiss schon viele Jahre her, aber als ich begann, an der „Unendlichen Bibliothek“ zu arbeiten, kam er mir wieder in den Sinn: „Die Unendlichkeit und das Ewige sind das einzig Gewisse." Schwer zu verstehen, dachte ich damals. Und das stimmt ja auch, zumindest auf den ersten Blick. Ist die Unendlichkeit nicht vor allem dies: unfassbar?

 

Schwer zu verstehen, das denke ich noch heute. Kierkegaard ist ja ohnehin kein leichter Stoff. Ich weiß noch: Ich habe mich immer gescheut, etwas von ihm zu lesen; eigentlich kenne ich nur diesen einen Satz. Und mit Jorge Luis Borges geht es mir ähnlich, von dem die Idee der Bibliothek von Babel ja stammt, die ich hier aufgreife, die Idee einer utopischen Bibliothek, die alle Bücher enthält, die zu schreiben überhaupt möglich ist.

 

Aber ich wollte mich dem Thema unbedingt widmen: Unendlichkeit. Und wie es in solchen Fällen oft meine Art ist, suchte ich nach einer Sinnbildlichkeit. Natürlich, dachte ich mir, die Unendlichkeit ist unfassbar, ungreifbar, unbegreiflich, für jeden von uns, sicher auch für Kierkegaard, sicher auch für Borges, denn wir alle sind Menschen, und unser Horizont ist eng, doch zugleich weiß jeder von uns, so sicher wie ein Mensch etwas nur wissen kann, dass sie existiert, unleugbar, auf ewig.

 

Es hat lange gedauert, bis ich wusste, wie diese Sinnbildlichkeit aussehen musste. Aber jetzt weiß ich es, und so sieht sie aus: Ich ordne 12 horizontale Baumstämme zu einer stilisierten Spirale. Mancher sieht vielleicht auch ein stilisiertes Auge darin, und das ist gewiss nicht falsch – jeder mag das interpretieren wie er will. Stämme aus Eiche und Pappel sind das, der kürzeste misst 3,20 m, der längste 5,70 m; einige haben 60 cm Durchmesser, andere mehr als 1 m. In alle von ihnen habe ich Stahlseile eingelassen, auf die sich Bücher bohren, dicht an dicht, Rücken an Rücken, Hunderte. 

Dazu kommt, wie ein Wächter, ein vertikaler Stamm, in ihn gehauen, geschnitten, geschnitzt ein hoher Sitz, thronhaft, unnahbar. Und über alles legt sich ein Teppich aus Licht. Eine temporäre Skulptur, könnte man sagen. 

 

Und zugleich ein Ensemble, das einen ganz praktischen Zweck hat: Es bildet eine Bühne, einen Zuhörerraum. Und hier kommt Ruben Zumstrull ins Spiel, der diese Bühne mit seinen Texten belebt.

 

Raum und Text: ein Zusammenspiel, das die Allgegenwart einer Unendlichkeit symbolisiert, die sowohl materielle als auch geistige Züge trägt. Verschlossene Bücher: Ich weiß nicht, was andere in ihnen sehen; ich sehe in ihnen eine Aufforderung an jeden von uns, die Unendlichkeit des geistigen Guts, das sie enthalten, zu einer neuen Unendlichkeit zu erweitern – durch eigene Gedanken. Wären sie geöffnet, denke ich mir, wäre sie für alle lesbar, stünden sie nur für das, für das steht, was sie enthalten. Indem sie es nicht sind, werden sie zu Katalysatoren, und wer weiß, wohin uns das führt. Aber so viele Betrachter die „Unendliche Bibliothek“ hat, so viele Deutungen. Und jede ist richtig.

 

Aber geht das überhaupt, habe ich mich gefragt: Kann eine Unendlichkeit noch unendlicher werden? Gewiss. Man muss es sich nur zutrauen. Unsere Welt ist, wie wir sie uns erschaffen. Was ich außerdem hier sehe? Einen sowohl gedanklichen als auch stofflichen Kreislauf des Werdens und Vergehens – alte Gedanken gebären neue, Holz wird zu Papier, Papier vergeht zu Erde, aus der neues Holz entsteht."

 

Volker-Johannes Trieb